Hochenergetische Kernreaktionen

Bei der Untersuchung von Kernreaktionen hochenergetischer Projektile verwendet man normalerweise

  • dünne, mono-isotopische Targets und
  • monoenergetische Projektile.

Man misst damit differentielle Daten von zum Beispiel dem Energieverlust oder Wirkungsquerschnitten für die Bildung individueller Produkte, Reaktionsmechanismen oder Sekundärteilchen.
Für viele differentielle Kernreaktionen gibt es hervorragende Modellbeschreibungen, mit denen man experimentelle Ergebnisse zutreffend vorhersagen kann.

Etwas komplizierter ist die Modellierung von Kernreaktionen in dickeren Targets, bei denen die Projektile von der Einschussenergie bis zur Reaktions-Barriere abgebremst werden; man kann inzwischen aber auch solche Kernreaktionen gut mit Modellen beschreiben.

Im Normallfall werden von den Experimentatoren alle Untersuchungen von Kernreaktionen sehr energiereicher Projektile in sehr dicken Targets gemieden, bei denen die in einer ersten Reaktion gebildeten Produkte ihrerseits wieder weitere Kernreaktionen machen können.

Beispiel-Reaktion

Wir beschäftigen uns mit genau diesen Reaktionen, bei denen sehr hochenergetische Projektile im Energiebereich von vielen GeV pro Nukleon mit Targets von vielen Zentimetern oder Dezimetern Dicke wechselwirken. Bei diesen Experimenten misst man die integrale Daten von primären Wechselwirkungen plus sämtlichen Sekundärreaktionen von Reaktionsprodukten. Prinzipiell sollte man die integralen Daten aus solchen Kernreaktionen hochenergetischer Projektile mit sehr dicken Targets mit Monte-Carlo-Methoden über die bekannten Modelle als das Integral über alle differentiellen Einzelreaktionen berechnen können und zwar komplett für die Projektile, Projektil-Fragmente und alle Sekundärreaktionen. Da dieser Typ von Kernreaktionen normalerweise von den Experimentatoren gemieden wird, stehen nur relativ wenige experimentelle Ergebnisse zum Vergleich mit Modellrechnungen zur Verfügung.

Die Verteilung der Häufigkeit des gebildeten Produkts 140La aus der 139La(n,γ)140La Reaktion entlang einem 50-cm langen Bleitarget von 8 cm Durchmesser, das von einer 6 Zentimeter dicken Paraffinschicht umgeben ist wird im Bild gezeigt. Die roten Daten sind das Ergebnis der Monte-Carlo Modellrechnung (absolut).

Die Testrechnung an dieser Beispiel-Reaktion, bei der 2 GeV Protonen mit einem 50 cm dicken Bleitarget reagieren, die gebildeten Neutronen im Blei sowie in einer 6-cm dicken Paraffinschicht teilweise moderiert und dann in einer 139La(n,γ)140La Kernreaktion eingefangen werden, zeigt sehr eindrucksvoll, dass die Monte-Carlo-Modellierung sehr komplexer Zusammenhänge möglich ist. Die mittlere Abweichung zwischen den experimentellen Ergebnissen (schwarze Daten) und der Monte-Carlo Modellrechnung (rote Punkte) liegt bei nur ±2 %.

Die positive Übereinstimmung zwischen Monte-Carlo Modellrechnungen und den experimentellen Ergebnissen geht allerdings komplett verloren, wenn man Reaktionen von sehr hochenergetischen Projektilen untersucht. Dabei stellt man fest, dass die Produktionsraten von Nukliden in unterschiedlichen Tiefen im Target nicht reproduziert werden und dass die Menge von produzierten Neutronen deutlich höher ist, als es von den Modellen berechnet wird. Zudem findet man in den Experimenten, dass einige Reaktionsprodukte vorwiegend in Sekundärreaktionen gebildet werden, obwohl zu deren Bildung die Primär-Energie eigentlich wesentlich besser geeignet wäre. Eine ausführliche Beschreibung findet man in der Phttps://westmeier.com/wp-admin/post.php?post=766&action=editublikation:

W. Westmeier et al., „Correlations in Nuclear Interactions between Ecm/u and Unexplained Experimental Observables“, World Journal of Nuclear Science and Technology 2 (2012) 125-132, in der eine Schwellenenergie vorgeschlagen wird, oberhalb von der man die unerklärlichen Ergebnisse beobachtet.

Die in der vorstehenden Publikation gefundenen Anomalien stammen alle aus radiochemischen Untersuchungen, bei denen die Bestimmung von Produktionsraten oder Neutronendichten mit großer Präzision erfolgt. Ähnliche Diskrepanzen zwischen experimentellen Daten und dem allgemeinen Verständnis von sehr hochenergetischen Kernreaktionen findet man allerdings auch in Daten von Emulsions-Detektoren, in denen man die Reaktionsprodukte optisch beobachten und vermessen kann. Aus den beobachteten Spuren kann man ableiten, dass es in einzelnen Kernreaktionen wesentlich unterschiedliche Temperaturen in den Projektilen gibt, während die Target-Kerne immer dieselbe (niedrigere) Temperatur aufweisen. Auch dies gehört zu den unerklärten Ergebnissen. Details zu den Daten von Emulsions-Detektoren findet man in:
E. Ganssauge et al., „Potential Correlations between Unexplained Experimental Observables and Hot Projectile-Like Fragments in Primary Interactions above Ecm/u ≈ 150 MeV”, World Journal of Nuclear Science and Technology 3 (2013) 155-161.

Weiterführende Untersuchungen von Kernreaktionen sehr hochenergetischer Projektile in dicken Targets mit der Hilfe von Emulsionen zeigen, dass man es bei sehr hohen Energien mit zwei verschiedenen Typen von Kernreaktionen zu tun hat, die als „Spallation“ und „Burst“ bezeichnet werden. Während die Charakteristika der Spallation-Reaktionen mit den gängigen Modellen konsistent sind kann man die Ergebnisse der Burst-Reaktionen noch nicht verstehen. Es deutet sich jedoch an, dass auch die in den oben zitierten Publikationen beschriebenen Ergebnisse konsistent als von einem Ursprung herrührend beschrieben werden können. Die Ergebnisse sind in der folgenden Arbeit veröffentlicht: R. Brandt et al., „Two Ways of High-Energy Heavy Ion Interactions: Spallation and Burst“, World Journal of Nuclear Science and Technology 5 (2015) 73-87.

Eine weiterführende Beschreibung von BURST Reaktionen sowie der Versuch, diese neue Art von Kernreaktionen mit dem Monte-Carlo Programm MCNPX 2.7 zu beschreiben wird in der folgenden Arbeit vorgestellt: R. Hashemi-Nezhad et al., „Further Studies of BURSTS and Spallation in High-Energy Heavy Ion Reactions“, World Journal of Nuclear Science and Technology 7 (2017) 35-57

Wir wollen unseren Experiment-Vorschlag aus dem Jahr 2012 wiederholen, dass man die Schwellenenergie um Ecm/u ~150 MeV genau bestimmen sollte, oberhalb der die unerklärten Ergebnisse beobachtet werden. Wenn diese Schwelle bekannt ist, dann kann man gezielte Experimente zur Klärung der unerklärten Ergebnisse machen. Bei dem vorgeschlagenen Experiment wird ein 5 cm dickes Cu-Target mit C-12 bestrahlt. Andere Kombinationen von Projektil und Target sind möglich.